Sonntag, 17. Juni 2007
Kapitel VII - Ringe
Schweißgebadet öffnete Gondar die Augen. Er konnte den Ausdruck, der zuletzt auf Nuguas Gesicht gewesen war, nicht mehr verdrängen. Er schüttelte sich. Dieser Schmerz, dies Hoffnungslosigkeit …Er rieb sich die Stirn und verdrängte die schlechten Gedanken. Woher kannte sie Kandir? Bei dem Gedanken an seinen „Liebsten“ wurde ihm warm ums Herz und er erhob sich von der spärlichen Lagerstätte, die sie nach ihrer Flucht hastig eingerichtet hatten. Die ganze Dämmerung waren sie durch Büsche und Hecken gestolpert, bis sie schließlich diese Wiese nahe einem Fluss erreicht hatten. In der Dunkelheit blitzte das Wasser durch die Strahlen des Mondes erleuchtet silbern und das Rauschen klang laut und dröhnend in den Ohren. Allen Schmerz vergessend machend …
Gondar drehte sich um und schaute Kandir an. Doch – die Mulde im Gras, wo er gelegen hatte, war leer und nur Kandirs Beutel und Schwert zeugten von seiner Anwesenheit. Hastig schlich Gondar zu der Stelle und hielt nach Spuren eines Kampfes Ausschau. Doch nichts dergleichen konnte er entdecken. Nur ein kleiner durch die langen Gräser getrampelter Pfad fiel ihm auf. Er richtete seinen Oberkörper auf und verfolgte mit seinen Augen die Spur, bis diese am Flussufer endete, wo ein Stoffhaufen lag.
Halb kriechend, halb gebückt rennend war Gondar am Ufer angelangt. Als er auf den Fluss schaute, stockte ihm der Atem.
Kandir badete im kühlen Wasser und im hellen Mondschein konnte Gondar jeden einzelnen Muskel erkennen, die Kandir spielerisch nacheinander anspannte. Er konnte seinen Blick einfach nicht von ihm abwenden, auch wenn er wusste; dass dieser ihn jederzeit entdecken könnte. Warum nur ihn? Er hasst mich doch …Immer noch gebannt blickte Gondar auf den gut gebauten Körper Kandirs und verschlang diesen mit seinen Blicken. Als Kandir nun aus dem Wasser heraus ans Ufer trat, konnte Gondar ihn in seiner vollen Pracht betrachten und versank in seinem Entzücken …

Die Sonne warf ihre ersten Strahlen über den Hügel und kitzelte mit ihren warmen Strahlen Dandruil wach. Der nahe Fluss plätscherte vor sich hin, und es sah aus, als würde sich eine große blaue Schlange durch das hüfthohe Gras schieben. Der Wind rauschte leise und bog die Gräser mal in die, mal in jene Richtung, während die vereinzelten Bäume wie steinerne Säulen in den Horizont ragten.
Dandruil seufzte, stütze sich am Boden ab und stand mühsam auf. Der Kampf und die anschließende Flucht durch die dunklen Gänge, bei der er sich mehrmals gestoßen hatte, zehrten immer noch an seinen Kräften, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte. Er drehte sich und schaute nach den Anderen. Gondar lag noch immer friedlich schlummernd im platt gedrückten Gras. Er zuckte zwar ein paar Mal nervös im Schlaf, so als würde er sich unter Schlägen winden, doch schnell entspannte sich sein Ausdruck wieder.
Dandruils Blick wanderte weiter zu Kandir, doch … er stutzte. Er erkannte zwar am platt gewälzten Gras, wo dieser geschlafen hatte, aber jetzt war die Stelle verwaist. Nachdenklich schaute er zum Fluss, und tatsächlich: Auf einem Felsen am Ufer saß Kandir, den Kopf auf die verschlungenen Arme gelegt und starrte ins Wasser. Langsam bahnte sich Dandruil einen Weg über die Wiese bis er schließlich bei diesem angelangt war. Er zog sich auf den Stein und ließ sich neben Kandir nieder, der nur kurz den Kopf wand und danach wieder seinen Blick ins Wasser gleiten ließ.
Die Zeit verstrich, bis Kandir anfing zu reden. „Ich kannte sie schon länger. Viel länger, als du jetzt glauben magst. Es wird für uns nicht leichter. Nicht, nachdem bereits zwei von uns gegangen sind.“ „Wen meinst du mit zwei? Und … was wird nicht leichter?“ Erstaunt wandte sich Dandruil zu Kandir. Jetzt verstand er gar nichts mehr. „Was? Oh … habe ich geredet? Ich war in Gedanken.“ Kandir glotzte ihn jetzt wie eine Kuh an und schüttelte sich, sodass der Zopf durch die Luft flog und ein sausendes Geräusch verursachte. Er ging nicht weiter darauf ein und stütze sich behände vom Stein ab, um in großem Bogen von dem Felsen herunter zu springen. „Wir sollten uns auf den Weg machen. Die Leute in Reckenheim werden nicht gerade erfreut sein.“

Luc atmete auf. Nach der Verwirrung gestern hatte er sich unbehelligt davon stehlen können und war in den nahen Wald geflohen. Er sammelte sich und schloss die Augen. Kandir … wo bist du? Er darf nicht sterben. Nicht er. Nicht heute.
Er seufzte und stand auf. Mit der linken Hand fuhr er sich ungeschickt durch die wenigen Haare und marschierte los. Ich muss vor ihnen da sein. Unser alle Schicksal steht auf dem Spiel.

Sandreel öffnete die Augen. Sie wusste nicht mehr, wo sie war. Während der letzten Tage waren sie durchgehend geritten und hatte nur zum Schlafen Halt gemacht. Die Fesseln hatten sich tief in ihr Fleisch eingeschnitten und nahmen ihr zunehmend die Kontrolle über ihren Körper. Sanft strich sie sich über den gewölbten Bauch. Ich muss es schaffen.
Sie zuckte zusammen, als sich ein Bild vor ihren Augen schloss. „NEIN!“ Laut schrie sie in die Finsternis, als sie begriff. Begriff und verstand. Die Priesterin lächelte stumm vor sich hin. „NEIN!“ Nicht sie. Sie wandte sich unter den Fesseln. Wollte verschwinden. Sie wusste wieder, woher sie die Stimme kannte. Laut schrie sie sich ihre schiere Angst von der Seele und wollte nur noch vergessen. Nichts mehr fühlen und nur noch vergessen. „NEIN!!“

Während der blaue Himmel über ihnen hinweg zog, veränderte sich der Boden zusehends. Den Schneemassen war rasch ein unebener Steinboden gefolgt, der Sandreel bei jedem Auftritt ihres Pferdes neue Stöße in den Rücken verpasste, sodass sie sich regelrecht freute, als sie nach einiger Zeit die Felsebene hinter sich ließen und eine Wüste betraten. Der Sand knirschte jedes Mal leise, wenn die Hufe der Pferde ein ums andere mal kleine Kuhlen in jenen gruben, und störte die ansonsten vollkommene Stille. Die Luft war so schwer und warm, dass sie wie ein Stein auf den Reisenden lag, und durch keine kleinste Brise gestört wurde.
Sandreel konnte nur noch stoßartig atmen, ihr Mund war durch die allzu große Hitze ausgetrocknet und der Schweiß rann ihr in Strömen über das Gesicht. Nachdem sie einige Zeit über ihr Schicksal gejammert und lauthals gebrüllt und geschrieen hatte, hatte sie von ihrer Entführerin einen Schweigezauber verpasst bekommen. Stumm und still lag sie jetzt dort, beobachtete die am Himmel vorbeiziehenden Wolken, und dachte über ihre Zukunft nach.
Was wollen die nur von mir? Immer wieder geisterte ihr diese Frage durch den Kopf, und nachdem sie nun wusste, wer sie erwartete, fielen ihre Überlegungen immer schlimmer aus. Warum … sie? Ich dachte, sie wäre schon lange tot. NEIN! Stumm schrie sie wieder, wollte weg, doch kein Laut entkam ihrem Mund. Nur das Knirschen des Sandes war zu vernehmen. Immer und immer wieder, in einem nie endenden Rhythmus …

Die Sonne war schon lange untergegangenen, doch sie ritten noch immer. Unruhig wälzte sich Sandreel auf ihrem Pferd hin und her. Wasser … ich brauche Wasser! Doch ihr Ruf verhallte ungehört in der Nacht. Um sich von dem brennenden Durst abzulenken, lauschte sie auf das Geräusch des Sandes, aber – plötzlich war es völlig still. Sie bewegten sich nicht mehr und Sandreel konnte wahrnehmen, wie ihre Gefährtin abstieg und sich ihr zuwandte. Eindringlich blitzen deren Augen auf, als sich ihre Blicke kreuzten, und sie einen kleinen Spruch murmelte. Sandreel fühlte, wie sich ihre Zunge löste und sofort stieß sie hervor:„Wasser!“
Die Andere lächelte, nahm eine Feldflasche von ihrem Gürtel und hielt sie an Sandreel ausgedörrte Lippen. Hastig trank sie, aus Angst, dass sie die Nacht auch noch weiterreiten würden. Jedoch bekam sie noch während sie trank schon die Fesseln gelöst und die Andere nahm ihr die Flasche ab und half ihr anschließend vom Pferd. Erst jetzt nahm sie die Umgebung richtig war. Eine düstere schwarze Kirche ragte vor ihnen auf, mit bedrohlichen zwei Türmen, die sich von dort ausgesehen im Himmel verloren. Einige Geier kreischten und kamen aus einem Fenster ihm oberen Stockwerk geschossen, als eine dunkle Glocke im rechten der Türme zu schlagen begann. Die Haupttür knarrte, als sie aufschwang und eine hochgewachsene Person in langer schwarzer Kutte, die bei jedem Schritt über den Boden schleifte, kam heran. Ihre Hände waren gefalten und der Blick gesengt, als sie zu den Beiden trat. Sie hob den Kopf ein bisschen und sprach Sandreels Entführerin an:„Sie ist wütend auf dich, Amaja. Du hättest direkt herkommen sollen!“
Zu Sandreels Genugtuung wurde Amaja noch blasser und starrte stier in die Augen der Fremden. „Wie könnt ihr schon hier sein? Ich habe mein möglichstes getan, da werde ich doch den Segen …“ „Schweig jetzt!“, stieß die neu dazugekommene hervor und unterbrach die weinerlichen Ausreden von Amaja. „Ich will deine Lügen nicht hören, Sie wird sich darum kümmern. Geh jetzt beiseite und bereite deine Aufgaben vor!“ Mit einer harschen Stimme, die keine Diskussion duldete, setzte sie ihren Befehl hinzu und die Angesprochene trat einen Schritt nach hinten, verneigte sich leicht und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.
Sandreel zitterte am ganzen Körper. Nein. Sie kann es nicht sein … sie darf es nicht sein! Aber … ihre Stimme … sie ist so gleich …Sie schüttelte sich und wich einen Schritt zurück, wobei sich ihre Füße in den immer noch warmen Wüstensand eingruben. Die Priesterin bemerkte dies und ging auf sie zu. „Du brauchst keine Angst haben … noch nicht!“ Sie lachte laut und durchdringend, sodass Sandreels Knie nachgaben und sie auf den Boden sackte. „Ohh .. geht es da jemandem nicht gut? Steh auf, du dummes Ding! Hörst du nicht? Steh auf!“ Ihr irres Lachen erstarb und ging in einen scharfen Befehlston über, während sie sich nach vorne beugte und Sandreel an den Schultern packte. Knochige Hände gruben sich in ihre Haut und ein matter Ring reflektierte das schwächliche Licht des Mondes. Der weiße Rubin schien regelrecht zu leuchten in der Finsternis.
Die Hände schüttelten sie durch und die helle, grausame Stimme ertönte noch immer. „Beweg dich jetzt nach oben! Wir nehmen hier keine Rücksicht auf dich!“ Durch ihr eigenes Rütteln wurde der Unbekannten die Kapuze vom Gesicht gerissen und lange, braune Haare umrahmten schnell ihr ausgemergeltes Gesicht. Die blauen Augen stachen aus ihren Höhlen hervor und wurden durch tiefe Augenringe ummalt.
Leicht richtete Sandreel sich auf und schaute der Fremden ins Gesicht. Sie ist es … Aber wie kann das sein? Sie wandte sich unter dem festen Griff, wollte entkommen … dem Grauen entfliehen. Hasserfüllt öffnete sie den Mund und spuckte die Worte aus: „Mutter …“

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